Andre Agassi: Open. Das Selbstporträt.
Das ist das Schöne an guter Literatur: Der Leser taucht in eine andere Welt ein, er schlüpft quasi in Geist und Körper des Protagonisten. Und genauso ist es schon auf der ersten Seite von Andre Agassis „Open“. Kurz vor seinem letzten Match auf der Profi-Tour liegt der heutige Ehemann von Steffi Graf mit Schmerzen im Bett. Nur mit Mühe kann er seinen von jahrelangem körperlichem Raubbau malträtierten Torso in die Dusche schleppen. Als Leser scheint man jeden einzelnen schmerzenden Muskel selber spüren zu können …
Dass das sehr offene Selbstporträt als gute Literatur bezeichnet werden kann, liegt vor allem an dem Pulitzer-Preisträger Moehringer, den Agassi für die Texterstellung ausgewählt hat. Und es liegt natürlich auch an der Ehrlichkeit, mit der Agassi sein Leben und seine Tenniskarriere reflektiert. „Open“ ist deshalb auch der passende Titel für die Biografie des US-Stars, der absolut ehrlich, authentisch und offen mit seinen Gefühlen, Ängsten und Verzweiflungen umgeht.
"Ich hasse Tennis!"
Und verzweifelt war Andre Agassi oft: Das fing schon als kleines Kind an. Andres Vater ist ein in Armenien geborener Iraner, der als Boxer an den Olympischen Spielen teilgenommen hat. Für seinen Sohn Andre hat er mehr als bloßes „Dabeisein“ geplant. Andre soll ein Tennis-Superstar werden. Deshalb lässt er seinen Sohn an der selbstgebauten Ballmaschine mindestens eine Million Bälle pro Jahr schlagen. Für jeden vermeidbaren Fehler – besonders wenn Andre einen Ball ins Netz schlägt – droht väterlicher Ärger. Spätestens dann beherrscht Andres Denken ein einziger Satz, der sich wie ein roter Faden durch das gesamte Agassi-Buch zieht: „Ich hasse Tennis!“
Tennis-Rebell wider Willen
Aber wie kann jemand, dessen Leben mehr als 30 Jahre fast ausschließlich aus Tennis bestand, diesen Sport so sehr hassen? Wie kann man 60 Profiturniere, darunter acht Grand Slam-Titel gewinnen, wenn man nichts so sehr hasst wie Tennis? Diese Frage scheint Agassi bei seiner Selbstreflexion vorangetrieben zu haben. Und sie treibt (im positiven Sinne) den Leser durch dieses sehr gut lesbare, extrem fesselnde Tennis-Buch.
Der Druck des Tennis-Vaters
Es ist nicht zuletzt die Angst vor seinem Vater, die Andre Agassi antreibt. Eindrücklich schildert der einstige Tennis-Punk welche Gefühle, Ängste und Depressionen dieser Druck bei ihm ausgelöst haben. Schon alleine wegen dieser Passagen ist „Open“ absolute Pflichtlektüre für alle Tennis-Eltern, die ihren eigenen Ehrgeiz in ihre Kinder projizieren. Wer jemals ein wichtiges Jugendturnier in Deutschland oder anderswo besucht hat, wird diese Spezies kennen …
Wertvolle Einblicke in das Innenleben der Profi-Welt
Aber auch für jeden anderen Tennisspieler und Tennis-Liebhaber ist Agassi Biographie eine absolute Pflichtlektüre. Selten konnte man derart authentisch die Gefühle eines Top-Profis nachvollziehen, der im Halbfinale der US-Open kurz vor seinem ersten Matchball steht. Eindrücklich schildert Agassi seinen Weg über die Bollettieri-Akademie bis zu den großen Grand Slam-Turnieren. Überraschend sind dabei Erkenntnisse, wie z.B. über seinen vermeintlich rebellischen Charakter – in Wahrheit wurde Andre Agassi dieses Image von Anderen auferlegt, obwohl er selber ganz anders war!
Und so gewinnt man bei der Lektüre des Buches ständig neue Erkenntnisse, die die Wahrheit in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen: Hat Agassi willentlich Drogen genommen, obwohl er dies bisher immer abstritt? Warum findet er Pete Sampras langweilig und Boris Becker „doof“?
Andre Agassis (Liebes-)Leben mit Steffi Graf
Und dann ist da natürlich noch die deutsche Tennisspielerin, für die er schon immer geschwärmt hat: Steffi Graf! Wie einem sehr guten, intimen Freund lässt Agassi den Leser wissen, wie die ersten Dates mit Steffi Graf abliefen …
Es ist auch dieses gute Verhältnis aus privaten Geschichten (Agassis Ehe mit der Schauspielerin Brooke Shields, der Mythos um seine lange Löwenmähne) und Storys aus der großen weiten Tennis-Welt, die dieses Buch wohl zu der besten Tennis-Biographie machen, die auf dem Markt erhältlich ist. Agassis „Open“ kann getrost als gute Literatur bezeichnet werden. Die einzelnen Handlungsstränge und Lebens-Ereignisse scheinen einem roten Faden zu folgen, das gesamte Werk folgt einem Motiv – so macht das Lesen der 608 Seiten Spaß und sorgt für neue Erkenntnisse!
Autor: Karsten Schmidt-Garve (Journalist, Literaturwissenschaftler, Germanist)
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